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Jürgen Fitschen
Aufhebung der Zeit und Schöpfung des Raums

Raum-Zeit-Spirale – Installation mit Klang

Die Künstlerin hat eine ganze Reihe von über zwei Meter hohen und mehr als ein Meter breiten Bahnen aus Transparentpapier geschaffen, die entlang einer regelmäßig sich entfaltenden Spirale von der Decke des Raumes hängen. Diese Spiralform endet keineswegs an den Wänden des engen Pavillons, sondern führt aus dem annähernd quadratischen Raum hinaus und setzt sich nun in einer gekieselten weißen Linie im gepflasterten Boden des Geländes vor dem Haus fort und verliert sich im Grün der Anlage.

Das Bezeichnen der großen Flächen der Papierbahnen mit der feinen Feder und schwarzer Japantusche – flächendeckend innen dunkel verdichtet, aber zur Öffnung der Spirale hin immer heller werdend – wird unterbrochen von unregelmäßigen Formen aus weißem Pigment, die wie leichte Girlanden von der Decke zu schweben scheinen. Solches Zeichnen auf größeren Flächen mit der spitzen Feder hat einen eigenartigen Wesenszug: Es verursacht bei der Arbeit einen merkwürdig gleichförmigen Ton. Wir haben ihn im Ohr, wenn eine Nadel ein Stück Papier ritzt. Die Künstlerin vernimmt ihn tausendfach, stundenlang, tagelang, solange sie eben mit ihrer Zeichnung fortfährt, die bis zur Fertigstellung tatsächlich monatelange Arbeit erfordert. Dann ist der Ton irgendwann so allgegenwärtig, dass er nicht mehr vernommen wird. In der Stille des Ateliers, von Nebengeräuschen und Störungen frei, kann das Kratzen der metallenen Feder uns in meditative Zustände versetzen, in denen Gedanken wandern und Zeit sich verflüchtigt. Wo aber Zeit in der Vorstellung schwindet, bildet sich ein immaterieller Raum, in dem der Schöpfer eins ist mit sich und seiner Arbeit...

Dieser in der Ausdehnung an sich grenzenlose Raum und das Verflüchtigen der Zeit werden in der Installation im Pavillon des Gerhardt-Marcks-Hauses physisch zur Anschauung gebracht: Das gleichförmige Kratzen der Feder auf dem Papier, das Susanne Schossig bei ihrer Arbeit begleitet, ist nun im Ausstellungsraum zu hören. Das fertiggestellte Werk – Ergebnis ihres unermüdlichen Zeichnens – erreicht uns optisch und akustisch.

Die Papierbahnen entwickeln sich nicht willkürlich spiralförmig, sondern bewusst nach einer mathematischen Gesetzmäßigkeit. Die Künstlerin hat die hängenden Fahnen in einer geometrischen Figur angeordnet. Anfang des 13. Jahrhunderts hat der italienische Kaufmann und Mathematiker Leonardo von Pisa, genannt Fibonacci, eine Formel für die Bildung einer „idealen“ Spirale gefunden. Die Entdeckung einer solchen Formel beruhte nicht allein auf mathematischen Prinzipien, sondern war auch der Beobachtung von Phänomenen in der Natur geschuldet. Schneckenhäuser, bestimmte Meeresmuscheln, die Ohrmuschel des Menschen, die Blütenstände der Sonnenblume, das Wachstum von Kaninchen- oder Insekten-Populationen und vieles mehr scheinen sich offensichtlich nach einer gewissen Gesetzmäßigkeit auszubilden, die mathematisch als Zahlenreihe beschrieben werden kann, der Fibonacci-Reihe für die Konstruktion einer Spirale. Eine Folge mit den Zahlen 1-1-2-3-5-8-13-21 usw., in der ab der dritten die jeweils nächste Zahl als Summe der beiden vorangehenden erhalten wird.

Sodann ist dieses organische Wachstumsgesetz der „Goldenen Spirale“ mit dem sog. „Goldenen Schnitt“ verwandt, der seit der Antike als das Maß aller Architektur und bildender Kunst galt, um Proportionen zu erzeugen, die dem menschlichen Empfinden angenehm und harmonisch, also „schön“ erscheinen. Wie das Maß des Goldenen Schnitts wirken Fibonacci- Spirale und Naturobjekte ebenmäßig, formvollendet und von einer sanften, federartigen Spannung durchdrungen, die ihnen bei aller Vollendung zu wahrhaft kreatürlicher Wirkung verhilft. So wurden beide Gesetzmäßigkeiten immer auch als solche der Schönheit der Schöpfung betrachtet.

Es ist eine schwierige und seit der Antike heftig umstrittene philosophische Frage, inwieweit die Mathematik in der Lage ist, die wirkliche Welt zu umschreiben, inwieweit sich Kunst- und Natur-Schönheit in den Gesetzen von Geometrie und Algebra widerspiegeln. Und dennoch lässt sich eines sagen: Auf eigenartige Weise kann man eine verborgene Verbindung intuitiv erspüren, welche die unstoffliche Grundlage aller sichtbaren Erscheinungen bildet. Hier schließt sich der Kreis – im Versuch, den immateriellen Ursprüngen von Raum und Zeit und den Gesetzen der Schönheit künstlerisch auf die Spur zu kommen.

Aus: Katalog zur Ausstellung Raum-Zeit-Spirale, Gerhard-Marcks-Haus Bremen, 2003, S. 4

Jürgen Fitschen
Abandonment of Time and Creation of Space

Site-specific installation with sound

For the pavilion of the Gerhard-Marcks-Haus the artist created a series of transparent sheets two metres in length, one metre wide suspended from the ceiling in the shape of an unfolding spiral. The spiral was not confined to the four square walls of the small exhibition room, but continued in a single line made from pebbles outside the building amongst the paving stones of the forecourt.

Susanne Schossig’s particular way of drawing with a small sharp nib on a large scale as seen at the Gerhard-Marcks-Haus has a singularly strange characteristic: it produces a unique monotonous sound. We hear it when a needle scratches a piece of paper. The artist lives with this noise for hours on end, days and months, for the entire duration of the ‘drawing’. There comes a point when the ear becomes oblivious to the sound through its permanent presence. In the quiet of the studio free of noise and sound interference the scratching of the metal nib gains an almost meditative quality where thoughts drift and time evaporates. Through loosing the awareness of time a sensation of immaterial space can form in which the creator is one with him or herself, her work and her thoughts. In this exhibition the expansion beyond the limitations of space and the evaporation of time is being translated into a physically tangible and visible reality in an installation of sound and drawing patterns done on sheets of paper hung in the shape of a spiral. The monotonous scratching noise of the pen on paper accompanying Susanne Schossig’s work is audible in the exhibition pavilion. The completed work is in front of us.

It is not arbitrary that the paper sections hang in form of a spiral according to a mathematical formula. The artist’s deliberation is based on the findings of thirteenth century Italian merchant and mathematician, the celebrated Leonardo von Pisa, called Fibonacci, who had discovered a formula for the ‘perfect’ spiral. Its findings were for the first time ever in medieval Europe calculated in the decimal system using Arab-Indian numbers introduced by Fibonacci. This was his great contribution. The discovery of this formula was not purely a mathematical inspiration but was derived from observations of recurring principles in nature. Snails’ houses, certain sea shells, the outer ear of the human, sunflowers, growth patterns of insect populations and much else seem to develop with a certain regularity which can be described with a number pattern whereby the addition of consecutive numbers forms the third etc.: 1-1-2-3-5-8-13...

Similarly conclusive is the formula for the ‘Golden Section’ which has been a guiding factor since the ancient Greeks in architecture as well as in the arts. The mathematical properties of the ‘Golden Section’ create in us a sensation of pleasantness, harmony, even beauty. In the same way as the ‘Golden Section’ appears well-proportioned, so does the Fibonacci spiral and other patterns in nature. They all inspire creativity through a quality of vibrating tension in all their apparent perfection.

Since the ancient Greeks, we struggle with a philosophical question of how closely mathematics is able to describe nature and how much natural beauty and the arts can be reflected in the laws of geometry and algebra. Of one thing we can be sure: in a strange way, we sense quite intuitively a mysterious link with the immaterial foundations of all visible things. Thus the circle closes in Susanne Schossig’s installation for the pavilion of the Gerhard-Marcks-Haus, Bremen, in the attempt to discover and explore the immaterial beginnings of space and time and the laws of beauty through art.

Catalogue, Gerhard Marcks Haus, Bremen, 2003, p. 4

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