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Hans-Joachim Lenger
Zufälle

Zufälle, so heißt es, lassen sich nicht voraussehen. Sie sind unkalkulierbar und nicht zu beherrschen. Sie widerfahren als glückliche Fügung (Kairós1), aber auch als Missgeschick, im schlimmen Fall als Katastrophe. Wer plant, ein Vorhaben zu verwirklichen, sucht den Zufall deshalb auszuschließen. Er will die Kontrolle behalten über das, was geschieht. Er wird also Vorkehrungen treffen, um den Zufall nicht zum Zuge kommen zu lassen. Das Kalkül soll das Missgeschick abwenden, soll den Zufall und die Kairologie in etwas verwandeln, was dem Plan, der Absicht gehorcht. Susanne Schossigs Arbeiten folgen dieser Logik nicht. Ganz im Gegenteil: sie suchen den Zufall hervorzurufen, um sich ihm zu überlassen, sich ihm auszusetzen und ihm in gewisser Weise zu „gehorchen“. Dieses Spiel ist immer neu und immer riskant. In bestimmter Hinsicht nämlich tritt die Künstlerin die Kontrolle über das ab, was geschieht. Unter ihrer Hand entsteht etwas, was nicht voraussehbar ist.

Jeder Strich, den die Skriptol-Feder setzt, konfiguriert das Feld der künstlerischen Inschrift neu, verschiebt deren Räumlichkeit und die Gestalten, die sich in ihr abzeichnen. Es handelt sich um etwas wie die Ökonomie einer Überraschung, die die Künstlerin nicht weniger überfällt als uns, die wir in der Gestalt der Arbeiten die Spur ihrer Genese aufnehmen. Wer sich diesen Arbeiten „nähert“ – und das ist nicht zuletzt wörtlich zu verstehen – könnte also erschrocken sein über die Mühe, in der sie entstanden. Zehntausende mal senkt sich die Feder, hinterlässt eine Spur, setzt ab und senkt sich erneut. Die Zeit, so könnte man meinen, dehnt sich hier bis an die Grenze des Dehnbaren, um an ihr zu reißen und sich im Gewimmel der Markierungen zu zerstreuen. Ließe sich dieses Wort von jedem esoterischen Beiklang freihalten, so könnte man auch sagen: diese Arbeiten entstehen aus einer „Meditation“, einer Versenkung in einen gewissen Maschinismus der Inschrift. Aber anders, als dies der Kitsch des Esoterischen meint, findet sich darin kein „Sinn“, wenn darunter ein verborgenes Gefüge aus Bedeutung verstanden wird. Und ebenso wenig etwas Mechanisches, das mit dem Maschinellen nur allzu leicht verwechselt werden könnte.

Tatsächlich handelt es sich um anderes. Denn was ein Strich ist, liegt nicht in ihm selbst beschlossen. Es geht aus dem Unterschied hervor, der ihn von anderen Strichen abgesetzt hat. Gestalt also entsteht aus der Distanz, Bedeutung ist verspäteter Niederschlag der Differenz. Indem sich ein Strich platziert, empfängt er seinen Ort und seine Zeit gleichsam aus dem relationalen Feld anderer Markierungen. Und doch geht von jedem einzelnen Strich nicht weniger eine bemerkenswerte Kraft aus. Denn der Strich situiert sich nicht nur in einer Struktur, aus der empfangen würde, was er „ist“. Ebenso schreibt er sich dieser Struktur ein, verschiebt er sie und teilt ihr so mit, was sie „ist“. Und dies relativiert die erschreckende Mühe, unter der diese Bilder entstehen, am Grad einer gewissen Nicht-Erfahrung, die nicht etwa Mühe ist, sondern Skansion (Bestimmung des Versmaßes) von Ereignissen, in der sich Zufall und Notwenigkeit gleichsam berühren und nicht mehr streng zu unterscheiden sind. Denn jeder einzelne Strich beschreibt nicht nur eine Differenz zu den anderen Strichen; zunächst markiert er eine Differenz zu sich selbst. Sie lässt ihn bereits in sich abbrechen und gewährt ihm so erst die Möglichkeit, sich zu anderen Strichen zu verhalten. Was man den Raum und die Zeit nennen könnte, die sich in diesen Bildern eröffnen, geht deshalb aus dem hervor, was sich ihnen gerade nicht zeigt. Das Experiment, das Susanne Schossigs Bilder immer neu beginnen, immer neu durchlaufen, spielt an dieser Grenze.

Ganz so nämlich, wie sich in ihnen die Zeit gleichsam bis zu einem Punkt dehnt, an dem sie in jene Differenzen zerfällt, aus denen noch ihre Dehnung denkbar wird, steht in ihnen die Frage des Raums oder der Räumlichkeit, auf dem Spiel. Über welchen Abstand hinweg können einzelne Markierungen eine Beziehung zueinander aufrecht erhalten, die man „räumlich“ nennt? Wo reißt das räumliche Gefüge? Und ist, was aus diesen Bildern als „räumliche Tiefe“ oder sogar Abgründigkeit spricht, mit diesem rissigen Gefüge oder diesen Fugen der Rissigkeit nicht unlösbar verbunden? Etwas in diesen Bildern nötigt dazu, mit naiven Vorstellungen von dem zu brechen, was „Zeit“ und „Raum“ seien. Vorstellungen eines Kontinuums, das sich dehnen, spannen, durchmessen ließe, zerfallen im rissigen Gefüge der Inschrift. Und dies zieht die Ästhetik einer Wahrnehmung gleichsam in diese Bilder hinein, so als sei sie tangiert von etwas, was sie betrifft, ohne es zu „wissen“: dass die Ordnung der Dinge kein Kontinuum beschreibt, über das bereits beschlossen worden sei, sondern dass sie in jedem Augenblick neu auf dem Spiel steht, in dem die Feder aufsetzt und ein Graphem hinterlässt.

Wie jede künstlerische Arbeit, die uns angeht, spricht auch die Susanne Schossigs von einem Rätsel. Denn Bilder, die diesen Namen verdienen, sollen nichts vorstellen, was einer Antwort gleichkäme. Gewiss, aus einer bestimmten Distanz gesehen, bieten sie etwas, was einer Gestalt gleichkommt. Was nämlich, gleich Wolken, unseren Blick anzieht und seinem Hunger entgegenzukommen scheint, „etwas“ zu erkennen, was sich identifizieren ließe, etwas, das ihm Halt oder Sicherheit gewähren würde. Aber nicht erst, wer sich diesem Bild nähert, wird registrieren, dass diese Sicherungen den Blick vor allem verunsichern oder das Entgegenkommen des Sichtbaren als eines des Entzugs ausweisen. Auch aus einer Entfernung, die an ihnen Gestalthaftes freigibt, prägt sich dem Blick ein, dass der Halt, den er sucht, fragil bleibt. Dass unvorhersehbar ist, was sich ereignet. Oder dass die Ordnungen, deren Kalkül das Ereignis ausschließen soll, in gleichem Maß zerbrechlich sind, wie sie von Öffnungen durchzogen sind, die dem ersten Blick entgehen, indem sie immer schon überrascht haben.

Sich dem auszusetzen – das würde bedeuten, auf das Missgeschick und die glückliche Fügung des Kairós anders einzugehen als mit Techniken oder Vorkehrungen des Ausschlusses. Geistesgegenwart könnte der Name sein für ein anderes Ethos des Eintreffens, das den Wunsch mit der Geduld nicht weniger konstelliert als den Eingriff mit der künstlerischen Inschrift. Aber tatsächlich nur mit der künstlerischen?

Aus: Katalog zur Ausstellung Aufzeichnungen, Städtische Galerie Bremen, 1999, S. 14

Hans-Joachim Lenger
Coincidences

Coincidences, it is said, cannot be foreseen. They are incalculable and uncontrollable. They happen as a stroke of luck (kairós1), but also as a mishap, in the worst case as a catastrophe. Therefore, if you want to execute a plan, you will do your utmost to rule out chance. You want to be in control of anything that might happen. You will therefore take precautions not to let chance have a hand in things. The calculation is to avert the mishap, to transform chance and kairology into something that obeys the plan, the intention.

The works of Susanne Schossig do not follow this logic. Quite the opposite: They seek to elicit chance in order to abandon themselves to it, to expose themselves to it and, in a sense, to “obey” it. This game is always new and always risky. Indeed, in certain respects, the artist cedes control over what happens. Under her hand something is created which is not foreseeable. Each stroke set by the scriptol pen reconfigures the field of artistic inscription, shifting its spatiality and the figures that emerge within it. It is something like the economy of a surprise, which ambushes the artist no less than it does us, who take up the trace of its genesis in the form of the works. Anyone who “approaches” these works – and this should be understood not least literally – might therefore be quite startled by the effort put into their creation. Tens of thousands of times the pen lowers, leaves a trace, hovers and again lowers. Time, one might think, is stretched here to the limit of the stretchable, torn and dissipated in the throng of markings. Without falling prey to any esoteric connotation, one could also say: These works arise from a “meditation”, an immersion in a certain mechanization of inscription. But unlike the kitsch of the esoteric, there is no “meaning” to be found in it, if that is understood as an underlying hidden structure of signifiers. And neither is it anything mechanical, which could all too easily be confused with the machine-made.

Indeed, this is something altogether different. For what a stroke is, is not decided in itself. It becomes clear from the difference that sets it apart from other strokes. Form thus arises from distance, meaning is the delayed precipitation of difference. By placing itself, a stroke derives its place and time, as it were, from the relational field of other markings. And yet no less a remarkable power emanates from each individual stroke. For the stroke not only situates itself in a structure from which it would be conceived as what it “is”. It likewise inscribes itself to this structure, shifting it, and thus informs it of what it “is”. And this is what relativizes the startling effort that has gone into the creation of these pictures, to the extent of a certain non-experience, which is not effort but a scansion of events in which coincidence and necessity touch each other, as it were, and can no longer be strictly distinguished. Because every single stroke describes not only a difference to the other strokes. A difference is initially marked with respect to itself and already lets it terminate on its own, thus granting it only now the possibility of relating to other strokes. What one could call the time and space that are opened in these pictures therefore emerges from what does not show itself to them. The experiment that Susanne Schossig’s pictures always begin anew, and always rerun anew, plays on this threshold. What is at stake is that just as time stretches within them, as it were, to a point where it disintegrates into those differences where its stretching is still conceivable, it poses the question of space, or spatiality itself. At how far a distance from each other can individual markings maintain a relationship that one can still call “spatial”?

Where does the spatial structure crack? And is that which speaks from these images as “spatial depth” or even inscrutability not inextricably linked to this cracked structure or these joints of cracking? Something in these images compels us to break with naïve notions of what “time” and “space” are. Ideas of a continuum that could be stretched, spanned, measured through, disintegrate in the cracked structure of the inscription. And this draws the aesthetics of a perception, as it were, into these images, so as to be touched by something which concerns them without “knowing” it: That the order of things does not describe a continuum about which it has already been decided, but that it is ever at stake anew whenever the pen sets down and leaves a grapheme.

Like every artistic work which affects us, that of Susanne Schossig also expresses an enigma. Because images worthy of this name are not meant to present anything that would amount to an answer. To be sure, seen from a certain distance, they offer something resembling a shape. Namely, like clouds, something which attracts our gaze and seems to meet its hunger to recognize “something” that might be identified, something that would provide it support or security. But it is not only those who approach this image who will register that these assurances primarily unsettle the gaze or identify the approach of the visible as one of withdrawal. Even from a distance it reveals what is morphologic about them, impresses on the gaze that the hold it seeks remains fragile. The unpredictable is what happens. Or that such arrangements, whose calculation is to exclude the event, are fragile to the same extent that they are infused with openings not seen at first glance, since they have always come as a surprise.

To subject oneself to it – that would mean to respond to the mishap and the fortunate coincidence of kairós differently than to the techniques of contrived exclusion. Presence of mind could be the name for another ethos of arrival that constellates the wish with patience no less than the intervention with artistic inscription. But is it really only with the artistic one?

From: Catalogue to the exhibition Notations, Städtische Galerie Bremen, 1999, S. 14

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